Mit der Richtlinie 2024/1260 hat die Europäische Union das Vermögensabschöpfungsrecht auf eine neue Grundlage gestellt. Sie reagiert damit auf die erheblichen Vollzugsdefizite, die das bisherige System geprägt haben. Illegale Vermögenswerte blieben häufig unangetastet, wenn keine strafrechtliche Verurteilung möglich war – etwa, weil Täter flüchteten, verstarben oder ihre Besitztümer hinter Offshore-Strukturen verschleierten. In einer Zeit zunehmender grenzüberschreitender Kriminalität, weitreichender Geldwäschepraktiken und politischer Korruption wird dieser Zustand als unhaltbar angesehen. Die neue Richtlinie verfolgt deshalb das Ziel, europaweit ein robusteres und wirksameres Instrumentarium zu schaffen.
Die Richtlinie ersetzt die bisherige 2014/42/EU und erweitert das Instrumentarium der Mitgliedstaaten erheblich. Besonders hervorzuheben ist die Einführung der Non-Conviction-Based Confiscation (NCBC). Sie erlaubt die Einziehung von Vermögenswerten auch dann, wenn keine strafrechtliche Verurteilung vorliegt, sofern deren illegale Herkunft mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann. Damit nähert sich das europäische Recht Systemen in Italien oder Großbritannien an, die seit Jahren erfolgreich mit zivilrechtlichen Einziehungsmechanismen arbeiten.
Als zweites Kernelement werden Unexplained Wealth Orders (UWOs) eingeführt. Sie richten sich gegen Vermögen, das in einem offensichtlichen Missverhältnis zu den legalen Einkünften des Eigentümers steht. Kann dieser keine plausible und überprüfbare Erklärung liefern, ist die Einziehung zulässig. Ziel dieser Regelung ist es, insbesondere organisierte Kriminalität und korrupte Amtsträger zu erfassen, deren Reichtum häufig über Strohmänner, verschachtelte Firmenkonstruktionen oder ausländische Strukturen verschleiert wird. UWOs gelten damit als scharfes Schwert gegen intransparente Vermögensanhäufungen.
Die Richtlinie verpflichtet alle Mitgliedstaaten, spezialisierte Asset-Recovery-Offices (ARO) und Asset-Management-Offices (AMO) einzurichten. Während die ARO für das Auffinden und Sichern von Vermögenswerten zuständig sind, obliegt den AMO die Verwaltung und der Werterhalt beschlagnahmter Güter. Dies soll verhindern, dass Werte während des Verfahrens verfallen oder ungenutzt bleiben. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Opferentschädigung: Die Richtlinie sieht ausdrücklich vor, dass beschlagnahmte Gelder nicht vorrangig dem Staat zufallen, sondern den Geschädigten zugutekommen. Damit wird das Instrument der Vermögensabschöpfung stärker als bisher auch in den Dienst des Opferschutzes gestellt.
Darüber hinaus erfasst die Richtlinie ausdrücklich neue Vermögenskategorien. Neben klassischen Vermögenswerten wie Immobilien, Fahrzeugen oder Bankguthaben fallen auch digitale Assets wie Kryptowährungen und NFTs in den Anwendungsbereich. Angesichts der wachsenden Bedeutung virtueller Werte in kriminellen Finanzströmen markiert dies einen wichtigen Schritt, um Schlupflöcher zu schließen und moderne Geldwäschemethoden zu erfassen.
Für Deutschland bedeutet die Richtlinie einen tiefen Einschnitt. Zwar kennt das Strafgesetzbuch mit §§ 73 ff. StGB und § 76a StGB bereits verschiedene Formen der Einziehung, doch setzen diese Instrumente stets einen konkreten Tatnachweis im Rahmen eines Strafverfahrens voraus. Die Richtlinie verlangt demgegenüber ein autonomes Verfahren, das nicht an eine strafrechtliche Verurteilung gebunden ist. Damit wird ein gänzlich neues Verfahrensregime erforderlich.
Bereits 2022 war ein wissenschaftlicher Entwurf für ein Vermögenseinziehungsgesetz (VEG) vorgelegt worden, der wesentliche Elemente enthielt: in-rem-Verfahren, Härtefallregelungen, zentrale Verwaltungsstellen und ein stärker opferorientierter Ansatz. Die Richtlinie greift diese Überlegungen auf, geht jedoch darüber hinaus, indem sie die europaweite Harmonisierung vorgibt, die UWOs einführt und die Einziehung digitaler Assets ausdrücklich regelt. Für den deutschen Gesetzgeber bedeutet dies, dass bestehende Normen nicht nur angepasst, sondern durch ein neues System ergänzt werden müssen.
Die Einziehung ohne strafrechtliche Verurteilung wirft erhebliche verfassungsrechtliche Fragen auf. Im Zentrum steht die Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG und das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK. Die Eingriffe in das Eigentum der Betroffenen sind tiefgreifend und erfordern daher strikte rechtsstaatliche Garantien. Dazu gehören richterliche Kontrolle, hohe Beweisstandards und effektive Rechtsmittel. Nur wenn diese Voraussetzungen gewährleistet sind, wird das neue System Bestand haben.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die Gefahr einer faktischen Beweislastumkehr. Zwar bleibt die primäre Darlegungslast bei der Staatsanwaltschaft, doch durch die UWOs verschiebt sich die Verantwortung auf die Eigentümer, den legalen Ursprung ihres Vermögens nachvollziehbar darzulegen. Dies ist verfassungsrechtlich heikel, könnte aber mit Blick auf internationale Präzedenzfälle, etwa aus Großbritannien, zulässig sein, sofern strenge Verfahrensgarantien bestehen. Entscheidend ist, dass Betroffene reale Möglichkeiten haben, sich zu verteidigen, und dass Gerichte die Anforderungen an die Darlegungspflicht verhältnismäßig ausgestalten.